Ein Blick auf zahlreiche Aufmacher der nationalen und internationalen Presse erlaubt die Schlussfolgerung, dass Nachrichten aus China nur allzu gern unter Hinzunahme populistischer Vorurteile präsentiert werden. Mit Ethnozentrismus und Exotik gefärbte Schlagzeilen scheinen sich leichter zu verkaufen, als seriöse Überschriften und Inhalte, die nicht auf die konstruierte Alterität Chinas abstellen. Eine thesengetriebene Informationsvermittlung, die durch kommerzielle Absatzvolumina und Klickraten im Internet dominiert wird, steht jedoch einer Vermittlung der wahren chinesischen Identität entgegen.
Auf der anderen Seite scheint diese Beobachtung auch zu bedeuten, dass ein durchschnittlicher Leser heutzutage nicht mehr bereit ist, sich zu bilden, sondern bei der Lektüre vielmehr in seinem – im Grunde einer Fantasie in nichts nachstehenden – Bild von China bestätigt werden will. Historisch ist das kein Novum: Bereits 1794 bedauerte Johann Christian Hüttner, der einzige deutsche Teilnehmer an der britischen Macartney-Gesandtschaftsreise nach China in den Jahren 1792 bis 1794, das Wahrgenommene werde gleichsam zur Bestätigung mitgebrachter Einstellungen selektiert. Kurz: »Moses oder China?« – diese schon 1670 gestellte Frage des französischen Philosophen Pascal hat an Aktualität nichts eingebüßt.
Über Jahre aufgebaute Vorurteile. Stereotype über China haben sich über Hunderte von Jahren akkumuliert. Als Beispiel hierfür mag folgendes historische, in der Geschichtsschreibung präsente Konstrukt herangezogen werden, das anhand von Geschichten, Postkarten oder Fotos in der westlichen Literatur über China verbreitet wurde: Die Stigmatisierung der Chinesen als ein Volk von Opiumrauchern. Während in den übrigen britischen Kolonien wie Hongkong oder Singapur der Konsum von Opium strikt untersagt war, wurde er in China von der britischen Kolonialverwaltung bewusst gefördert, da der Absatz eine unverzichtbare Ertragsquelle war, um die Macht östlich des Suezkanals zu finanzieren und aufrechtzuerhalten. Das Identitätskonstrukt hat damit eine klar ökonomische Prägung, ebenso wie das nachstehende Beispiel jüngeren Datums: In den Jahren nach dem Tiananmen-Massaker 1989, einer Zeit, in der sich China zu der weltweit am schnellsten wachsenden Wirtschaft entwickelt hatte und somit ein Kernmarkt auch für westliche Konzerne wurde, bestand die Gefahr, dass der amerikanische Kongress Sanktionen aussprechen und einer Erwartungshaltung der US-Bürger nachkommen würde. Geboren wurde das Konstrukt, dass Handel China bei der Öffnung seines politischen Systems helfen würde.
Die Alterität der chinesischen Identität wurde von unterschiedlichen Interessengruppen stets kontrovers ausgearbeitet. Eine besondere Funktion kommt den chinesischen Schriftzeichen zu. Ihre Integration in die Berichterstattung in Schrift- oder Bildform bewirkt beim ausländischen Leser ein Ressentiment, das sich über die Jahrhunderte mit »anderer Globus« (Leibniz, 1705), »Heterotopie« (Foucault, 1966) oder »Gegenprinzip« (Osterhammel, 2008) umschreiben ließe. Der russische Missionar Georg Timkowski beispielsweise kommt 1826 auf die »ungewöhnlichen Eigenheiten der Chinesischen Schriften« zu sprechen und kommentiert, dass aus ihr »für den Fremden zahllose Mißverständnisse entspringen«. 1850 resümierte der Königlich Sächsische Konsistorialrat und evangelische Hofprediger Johann Kaeuffer, dass eine der wichtigsten Ursachen des chinesischen Mangels an allseitiger Bildung im »starren Festhalten seiner Begriffs- und Zeichenschrift« liege, »welche jede klarere Bildung und Darstellung des Gedankens niederhält«. Die französischen Missionare Evariste Huc und Joseph Gabet wussten 1874 wiederum zu berichten, dass die Chinesen Schriftzeichen untereinander in vertikaler Reihe stellen und der Leser folglich nicht, wie es bei der horizontalen Schrift der Fall sei, gleich einen ganzen Satz überblicken kann. Ihr Fazit: »Wie in so vielen anderen Beziehungen thun sie auch hierin das Gegentheil vom europäischen Brauche.« Damals wie heute werden Publikationen gerne mit den für das ausländische Auge exotischen Schriftzeichen verziert.
Namen verstehen. Die aufgrund von Informationsasymmetrien empfundene Fremdartigkeit lässt sich durch Bildung reduzieren. Anhand der Übersetzung des Pekinger U-Bahn-Plans kann ein denkbar einfaches Exempel statuiert werden: Westliche Touristen beabsichtigen, einigen bekannten Sehenswürdigkeiten der Hauptstadt einen Besuch abzustatten. Auf einem chinesisch gehaltenen Plan würden ihnen die Stationsnamen, beispielsweise 圆明园, 天坛东门 und 鼓楼大街, bei der geografischen Lokalisierung keine Hilfe sein. Durch eine Version in lateinischer Umschrift, dem sogenannten Pinyin, wird die empfundene Alterität bereits sichtbar reduziert, doch helfen die Silben lediglich, die Aussprache der Stationen einfacher zu gestalten. Auf der Suche nach den gewünschten Attraktionen transportieren auch Yuanmingyuan, Tiantandongmen und Guloudajie keinen Sinn.
Hier ist als letzter Schritt der Transfer zu leisten, dass es sich um den Sommerpalast, den Himmelstempel und den Trommelturm handelt. In übersetzter Form erschließt sich der Pekinger U-Bahn-Plan für Nicht-Sinologen neu und eine Vielzahl an Stationsnamen fällt ins Auge, die auch in deutschen Großstädten wiedergefunden werden können. Besonders auffällig an den Bezeichnungen ist die Vorliebe für schöne, allegorische Namen wie »Berg der acht Schätze«, »Gasse des ewigen Friedens«, »Goldene Terrasse im Glanz der untergehenden Sonne«, »Jadebrunnenstraße«, »Tempel des zurückkehrenden Drachens« oder »Tor der gesunden Tugend«. Die Asymmetrie ist aufgehoben, das Konstrukt der Andersartigkeit dekodiert.
Unterschiede zwischen Ländern bestehen zweifelsfrei. Eine Chinaberichterstattung, die aus Interessen der Macht und Manipulation Identitäten konstruiert anstatt beobachtbare Sachverhalte und für Erklärungen zugängliche Phänomene reportiert, ist dagegen mit Besorgnis zu betrachten. Denn die Art und Weise, wie wir über China reden, beeinflusst, wie wir chinesische Handlungen interpretieren und darauf reagieren. Was war zuerst da? Die Henne oder das Ei? Sank erst der Bildungsanspruch des Lesers oder wurde er durch die ihm zur Verfügung stehenden Quellen in expressis verbis für dumm verkauft? Das klassische aristotelische Paradoxon bleibt Antworten schuldig, doch Fakt ist, dass die Diskrepanz zwischen Fremd- und Eigenwahrnehmung überproportional steigt, solange westliche Stagnation und repetitive Stereotypbefriedigung auf chinesische Dynamik treffen.
Solange diese Abwärtsspirale nicht gestoppt und mehr Mut zu höherem Niveau gewagt wird – welche Qualität haben dann die deutsch-chinesischen Beziehungen und die – hoffentlich nicht ebenso konstruierte – Völkerfreundschaft in der Breite? at
in: ChinaContact, 12/2012, S. 44-46 (PDF-Download)
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